SPORT BILD
3.01.2007
Sie versuchen es mit allen Tricks
Von Dirk Schlickmann
Die Deutschen nutzen einen Psychologen, träumen von perfekten Flügen, ließen sich vor der Vierschanzen-Tournee neu starten "wie einen Computer". Ob es was bringt?
Kurz vor dem Einschlafen springt Martin Schmitt (28) noch einmal von der Schanze. Kraftvoll hebt er ab, nimmt die perfekte Flughaltung ein und schwebt rekordverdächtig weit. Alles jedoch nur in Gedanken, die Realität sah am Samstag anders aus. Zum Start der Vierschanzen-Tournee in Oberstdorf sprang Schmitt 20 Meter kürzer als der siegreiche Österreicher Gregor Schlierenzauer (16). Wieder ein Rückschlag für die deutschen Adler. Dabei hatten sie es mit allen Mitteln versucht und sogar einen Sportpsychologen ins Team geholt, wogegen sie sich jahrelang gewehrt hatten. Doch nach fast drei Jahren ohne Einzelsieg sind die Berührungsängste verflogen. Alles wird versucht, um den Erfolg zurückzuholen. "Wir wollen in allen Bereichen professionell arbeiten, die Arbeit mit einem Sportpsychologen ist ein Element", sagt Bundestrainer Peter Rohwein. Nun ist Jan Mayer die letzte Hoffnung. Seine erste Maßnahme: Fernsehverbot vor dem Einschlafen. "Ich habe den Springern empfohlen, dass sie abends den Fernseher zehn Minuten früher ausschalten und sich stattdessen optimale Sprünge ins Kurzzeitgedächtnis rufen", sagt Mayer. "Die Gedanken, die man kurz vor dem Einschlafen hat, gehen nachts ins Langzeitgedächtnis über und werden abgespeichert." Schmitt ist vom Nutzen der Betreuung durch Mayer überzeugt, auch wenn die noch keine Früchte trägt. "Man darf nicht verkrampfen und zu viel wollen", sagt er. Trotz seines mäßigen 18. Platzes beim Tournee-Auftakt will sich Schmitt nicht aus dem Konzept bringen lassen. Dabei ist das Verinnerlichen der richtigen Bewegungsabläufe nur einer von vielen Psycho-Tricks, die endlich zu neuen Höhenflügen verhelfen sollen - am liebsten schon bei den verbleibenden Springen der Vierschanzen-Tournee in Innsbruck am Donnerstag (13.45 Uhr) und in Bischofshofen am Sonntag (16.30 Uhr).
"In so einer feinfühligen Sportart wie Skispringen macht der Kopf weit mehr als die Hälfte aus", sagt der Berliner Orthopäde und Sportmediziner Herbert Koerner. Vor einem Jahr rief ihn Hubert Schiffmann, Schmitts Manager, an und vereinbarte einen Termin für den Ex-Weltmeister. In Oberstdorf wandte Koerner, der schon den Schwimmer Stev Theloke behandelt hat (SPORT BILD berichtete), bei Schmitt eine zentrale Reflextherapie, das temporäre Brain-Splitting, an. Dabei drückte er Schmitts Kopf gegen seine Brust und drückte mit dem Mittelfinger auf einen Punkt zwei Zentimeter unter dem Ohrläppchen. "Dadurch wird ein hochenergetischer Impuls Richtung Stammhirn gesendet", sagt Koerner. "Das ist wie bei einem Neustart bei einem Computer. Alle Fehlerquellen werden gelöscht, Angstsyndrome und störende Faktoren verschwinden." Der Termin bei Koerner war einmalig.
Mayer hingegen arbeitet kontinuierlich mit Schmitt und den anderen deutschen Springern wie Michael Uhrmann und Jörg Ritzerfeld. "Besonders bei der Tournee stürmt viel auf die Springer ein", sagt Mayer. "Im Aufzug des Schanzenturms und oben im Warteraum hat man viel Zeit zum Nachdenken. Da braucht man Strategien, um seine Gedanken im Griff zu haben." Zum Beispiel Selbstgespräche. "Damit steuere ich, was in meinen Kopf rein darf", sagt Mayer. Die Erinnerung an einen gelungenen Sprung hilft mehr als an einen verpatzten. "Ergänzt werden die Selbstgespräche oft durch Visualisieren", sagt Mayer. So ruft sich Schmitt die Bilder seiner Goldsprünge bei der WM 1999 und 2001 ins Gedächtnis, Uhrmann (28) die seines bislang einzigen Weltcup-Sieges 2004 in Zakopane (Polen). Ganz wichtig zudem: die Entspannung zwischen den Sprüngen. "Positiver Stress ist nur begrenzt haltbar", sagt Mayer. "Ich brauche das Adrenalin aber oben auf der Schanze und nicht früher oder später." Uhrmann denkt, wenn der Stress zu groß wird, an Freundin Heidi und Tochter Leni Viktoria. "Das gibt ein gutes Gefühl, Skispringen ist auf einmal nicht mehr wichtig", sagt er. Besonders Uhrmann tut Gelassenheit gut, neigte er bisher dazu, schnell zu verkrampfen. Vergangenes Jahr kam er als Mitfavorit zur Tournee - und zerbrach an den Erwartungen. Nun sagt er: "Ich schaffe es besser, störende Gedanken auszublenden. Die Gespräche mit Jan Mayer tun gut." Schmitt stülpt sich, um abzuschalten, vor seinen Sprüngen einen Kopfhörer über und hört Rockmusik. "Ich schaffe es jetzt besser, auf den Punkt genau die richtige Spannung zu erzeugen", sagt er. Im Sommer trainierten die Springer sogar mit Pulsuhr, um zu lernen, wie man richtig entspannt. "Beim Sprung hat der Springer den Maximalpuls. Bei vielen ist er aber auch vorher und nachher bei über 100. Das sollte nicht sein", sagt Mayer. Doch die Arbeit mit Psychologen, das weiß Rohwein, "garantiert nicht, dass wir automatisch ganz nach vorne springen. Die goldenen Zeiten sind vorbei. Das kann sich ändern, doch das dauert." Bis dahin bleiben deutsche Siege Träumerei.